GEOTECHNIK UND STATIK BEI TROCKENMAUERN


Rechnerische Ergänzungen und technische Exkurse zum Buch
Trockenmauern, Grundlagen, Bauanleitung, Bedeutung
der Stiftung Umwelteinsatz

von Theodor Schmidt

Mauerquerschnitt und Statik - Teil 1

Eine Trockenmauer muss standsicher sein. Dieser Teil behandelt die in der Praxis sehr nützlichen Faustregeln und die Grundlagen des physikalischen Modells, welches zur Berechnung der Kippsicherheit verwendet wird. Texte zu Sicherheitsfaktoren und zum Anzug der Rückwand erfolgen in separaten Anhängen.

Einige Grundbegriffe der Statik für Trockenmauern werden im Buch in den Kapiteln Wissen (ab Seite 128) und Bauen (ab Seite 219) beschrieben. Letztere Texte werden hier im Teil 1 innerhalb der Ergänzungen weitgehend wiederholt und farblich hellgrau gekennzeichnet.

In Teil 2 folgt eine Beschreibung von Normen und Empfehlungen zur Dimensionierung, sowie eine Vertiefung, welche auch die statische Dimensionierung eigener Stützmauerprofile ermöglicht. Sie beinhaltet Modelle für die Kipp- und Gleitsicherheiten, die mathematischen Gleichungen, welche die Berechnungen erst ermöglichen, und separate Tabellenkalkulationen, welche die Berechnungen vereinfachen. Als Alternative dazu wird eine zeichnerische Methode beschrieben, welche fast ohne Rechnen auskommt und im Prinzip beliebige Trockenmauer- und Bodenprofile evaluieren kann.

Die beide Teile "Mauerquerschnitt und Statik" setzen einige Grundbegriffe aus dem Teil Boden und Baugrund voraus.

Einleitung

Bei kleinen Projekten und einfachen Bodenverhältnissen ist die Dimensionierung rasch geklärt, vorausgesetzt, es sind genügend Steine für eine großzügige Bemessung vorhanden. Bei größeren Vorhaben lohnt sich eine genauere Planung, damit nicht mehr Steine als nötig verbaut werden und die Standsicherheit trotzdem gewährleistet ist.

Am einfachsten ist die überschlägige Ermittlung der Mauerdicke bzw. Fundamentbreite mit Hilfe gebräuchlicher Faustregeln und Erfahrungswerten. Freistehende Trockenmauern und Futtermauern werden fast immer auf diese Weise bemessen. Auch bei Stützmauern genügt diese Art der Bemessung, wenn die Bodenverhältnisse bekannt und gleichbleibend sind.

Weiter kann die statische Dimensionierung anhand normierter Verfahren bzw. daraus entstandener Praxishilfen erfolgen. Und schließlich ist die eigene Berechnung beliebiger Trockenmauern möglich.

Es wird bei den hier beschriebenen Verfahren angenommen, dass sich Mauer, Belastungen und Gelände quasistatisch verhalten. Das heißt, dass sie nicht durch Murgänge, starke Erdbeben oder übermäßige Vibrationen beeinträchtigt werden. Trockenmauern können jedoch, wenn erforderlich, murgang- oder erdbebenresistent gebaut werden.

Um die optimalen Dimensionen einer Trockenmauer festzulegen, sollten die Anforderungen hinsichtlich Maßhaltigkeit, Witterungsbeständigkeit und Erscheinungsbild der Mauer so gut wie möglich bekannt sein. Bei Stützmauern sind die Neigungswinkel des Geländes und der zu stützenden Terrasse oberhalb der Mauer in Erfahrung zu bringen. Die zu erwartenden Auflasten durch Fahrzeuge, Menschen und Tiere müssen mit berücksichtigt werden. Anhand dieser Vorgaben kann der Querschnitt der Mauer bestimmt oder berechnet werden.

Die wichtigste Rechnung für Stützmauern betrifft das Kippen. Denn bei der Kippbewegung verlagert sich der Schwerpunkt der Mauer und ihre Stabilität nimmt immer mehr ab. Deshalb kann eine Kippbewegung zum unmittelbaren Um- oder Zusammenfallen führen.

Ähnlich wichtig, aber weniger dramatisch, ist die Berechnung des Gleitens. Dies bezeichnet den Vorgang, bei dem sich eine vom Erddruck überlastete Stützmauer als ganzes verschiebt. Bei einer Trockenmauer kann es sich aber auch um Teilbereiche handeln.

Noch wichtiger ist die Absicherung gegen Grundbruch, aber dieser ist bei Trockenmauern selten, und der noch spektakulärere Geländebruch noch seltener. Die Setzung schließlich, betrifft jede Mauer, aber gerade Trockenmauern sind hier ziemlich unempfindlich. Obwohl die genannten Versagensarten zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen, werden sie getrennt berechnet.

Grundlagen

Die vier Flächen

Die meisten Mauern können durch vier Flächen definiert werden. Da sind zunächst die beiden Hauptflächen – bei Stützmauern ist es allerdings nur eine –, die Gründungssohle, die Krone, und – wiederum nur bei Stützmauern – die innere Fläche oder Rückwand zum Gelände. Die Ausmaße und Winkel der einzelnen Flächen haben je eine ganz spezifische Auswirkung auf die Statik der Mauer. Dies wird im Abschnitt zur Dimensionierung genau beschrieben. Meistens genügt es, die Flächen im Mauerquerschnitt zu beschreiben; in der grafischen Darstellung werden sie zu Linien.

Die folgenden Ausführungen gehen von einem Querschnitt mit je vier Geraden und Ecken aus. Im allgemeinen Fall wird eine solche Fläche Viereck genannt. Sind Gründungssohle und Krone parallel, spricht man von einem trapezförmigen Profil. Stehen zwei der Flächen rechtwinklig zueinander, heisst die Querschnittsfläche Sehenviereck.

In der Wirklichkeit sind Trockenmauern nicht immer regelmäßig. Ausserdem tragen selbst bei einem exakt definierten Querschnitt nicht alle Steine in derselben Weise zur Stabilität bei. Trotzdem beschreibt das idealisierte Viereck die statischen Eigenschaften in den meisten Fällen recht gut und mit genügender Genauigkeit.

Gleichgewicht der Kräfte

Das Gleichgewicht zwischen Gewichtsstützmauern und dem Erddruck des Bodens kann man sich analog einer Waage vorstellen. Das Gewicht der Mauer befindet sich auf der einen Seite, das Gewicht des Bodens und/oder Wassers auf der anderen Seite. Der Boden und besonders das Wasser drucken aber nicht nur nach unten, sondern auch seitlich auf die Mauer. Deshalb sieht die angenommene Waage nicht gerade, sondern L-förmig aus. Um ihr Gleichgewicht zu untersuchen, müßen auf der einen Seite das Mauergewicht und auf der anderen Seite Erd- und/oder Wasserdruck bestimmt werden.

Der Drehpunkt der Waage befindet sich theoretisch am vorderen Fusspunkt der Mauer. In Wirklichkeit kippt eine Trockenmauer nicht vollständig als Einheit und die meisten Böden würden unter der Konzentration der ganzen Last an der Kante beim Fusspunkt etwas nachgeben. Deshalb kann der Drehpunkt je nach Mauerkörper und Boden ein bisschen höher, tiefer oder weiter innen liegen, oder ist gar nicht definierbar. Für die Veranschaulichung und die modellmässigen Berechnung nehmen wir im Folgenden den Drehpunkt aber beim Fusspunkt an.

Zeichnung Gleichgewicht

Die Kippsicherheit einer Gewichtsstützmauer kann veranschaulicht werden, indem das Mauerprofil schematisch als L-förmige Waage dargestellt wird. Die Mauer ist stabil, wenn ihr Standmoment grösser als ihr Kippmoment ist.

In der Abbildung wird die Profilfläche einer Gewichtsstützmauer samt einer sinnbildlichen L-förmigen Waage mit Drehpunkt DP gezeigt, welche das Gleichgewicht schematisch darstellt. Die Gewichtskraft G der Mauer greift am Schwerpunkt SP an und wird zur Veranschaulichung nach unten zum horizontalen Hebel mit Länge LG verschoben. Gewicht mal diese Hebellänge ergibt das stabilisierende Drehmoment, das Standmoment. Diesem entgegengesetzt wirkt das kippende Drehmoment, das Kippmoment. Es beträgt die Länge des Hebelarms LE mal die Kraft Eag, welche im unteren Drittel der inneren Mauerfläche angreift; für die Kraft Eap durch Auflastdruck auf der Terrasse wäre es in der Hälfte. Auch diese Kraft Eag wird bis zu ihrem Hebelarm LE verschoben. Dieser Hebelarm steht im rechten Winkel zu Eag, aber nicht unbedingt zum anderen Hebel LG. Die beiden Drehmomente sind als Flächen veranschaulicht. Die Mauer ist nun standfest, wenn die Fläche G × LG größer ist als Eag × LE.

Auch das Gleiten lässt sich als Kräftegleichgewicht zwischen Erddruckkraft und Mauergewicht darstellen, wie in Teil 2 beschrieben wird.

In diesem Beispiel ist Eag praktisch horizontal. Bei Böden mit grossem Reibungswinkel ist diese Kraft jedoch nach unten gerichtet, was nicht nur einen kleineren Hebelarm für das Kippmoment bedeutet, sondern auch das Standmoment vergrössert durch eine zusätzliche nach unten gerichtete Komponente der Reibkraft zwischen Boden und inneren Fläche der Mauer.

Gewicht der Mauer

Das Gewicht eines Mauerabschnitts kann auf verschiedene Arten ermittelt werden:

  1. Bei der ersten Art wird die Wichte des Mauerwerks geschätzt. Bei mittelschweren Mauern kann mit 20 Kilonewton pro Kubikmeter gerechnet werden, bei leichten mit 15 kN/m³.

  2. Bei der zweiten Art wird eine kleine Versuchsmauer mit definierten Abmessungen gebaut. Die Masse der verwendeten Steine (in Kilogramm oder Tonnen) geteilt durch das Volumen der Versuchsmauer ergibt die Dichte des Mauerwerks (Raumdichte) in kg/m³ bzw. t/m³. Diese Dichte wird mit der Erdbeschleunigung (ca. 9,81 m/s², vgl. Teil Boden und Baugrund) multipliziert. Das Resultat ist die Wichte in N/m³ bzw. kN/m³ und dürfte etwas genauer sein als eine blosse Schätzung.

  3. Eine dritte Methode ist die genaue Bestimmung der Dichte bzw. Wichte des Steinmaterials selbst (Rohdichte bzw. Rohwichte). Dann wird der Hohlraumanteil der Mauer abgezogen. Bei dicht gebauten Mauern und gemäß deutscher Norm kann dafür ein Viertel, also 25 Prozent, angenommen werden. Bei mäßig dicht gebauten Mauern und gemäß der Schweizer SIA-Norm kann dafür der tatsächliche Wert oder ein Drittel, also 33 Prozent, angenommen werden. Bei sehr locker gebauten Mauern beträgt der Hohlraumanteil etwa 40 Prozent (vgl. Villemus 2005 und McCombie 2012). Also wird die Steindichte oder -wichte für die obigen Fälle mit 0,75, 0,67 oder 0,6 multipliziert (vgl. Tabelle auf Seite 129 des Buchs).

Nun wird die nach einer der obigen drei Methoden erhaltene Mauerwichte mit dem geplanten Mauerquerschnitt multipliziert. Das Ergebnis pro Meter Mauerlänge ergibt Kilonewton, also eine Kraft. Deren Richtung ist immer senkrecht nach unten, und ihr scheinbarer Angriffspunkt heißt Schwerpunkt. Eine am Schwerpunkt konzentrierte Gewichtskraft gibt es bei Trockenmauern nicht wirklich, aber sie kann entsprechend dargestellt werden, so lange man sich der Vereinfachung dieses Modells bewusst ist.

Auftrieb durch Wasser

Steht eine Mauer im Wasser oder wird davon durchflossen, reduziert sich das Gewicht um den Betrag des Auftriebs. Dieser berechnet sich als Volumen des Mauerwerks von unten bis zum tatsächlichen Wasserspiegel mal die Wichte von Wasser, meistens etwa 9,8 kN/m³ , bei Meerwasser oder schlammigem Wasser rund 10 kN/m³. Der Auftrieb wird auch bei kleinen Hohlräumen im Mauerwerk wirksam; es genügen die engsten Spalten, damit das Wasser eindringen kann. Bei geschlossenen, mit Luft oder Gas gefüllten Poren im Gestein, wird der Auftrieb zwar nicht direkt wirksam, jedoch ist das Steinmaterial leichter gegenüber solchem ohne Poren, was rechnerisch bereits mit der Rohwichte berücksichtigt wird.

Es gibt drei Möglichkeiten, mit Wasser an oder in der Mauer umzugehen.

  1. Die Mauer und ihre Umgebung so gut entwässern, dass sich das Wasser nirgends stauen kann; dann entsteht kein Auftrieb. Normal berechnen.

  2. Die hangseitige Innenfläche abdichten und den Mauerkörper entwässern. Die Mauer entspricht dann einem Damm aus trockenem Mauerwerk – also ohne Auftrieb. Mauer für den maximal möglichen Wasser- und Erddruck auf die Innenseite dimensionieren.

  3. Die Mauer für Fall mit Auftrieb dimensionieren, also mit Abzug für den Auftrieb auf den Mauerkörper. Dieser entspricht dann in etwa einem Wehr.

Bei den allermeisten Trockenmauern kommen die letzten zwei Modelle nur in Teilbereichen vor, unter dem Wasserspiegel im Boden oder einem Gewässer. Nur in speziellen Situationen ist die ganze Mauer betroffen, z.B. bei einer Stützmauer für einen Teich (Fall 2), für ein Wehr, undichten Deich, oder wenn die Sichtfläche einer Mauer dicht vermörtelt wurde und anstehendes Wasser nicht abfließen kann (alle Fall 3).

Gewicht und Druckkraft des Bodens

Auf der anderen Seite der Gleichgewichtswaage wirkt die Kraft des Bodens. Diese wird durch den Erddruck plus dem Druck allfälliger Auflasten auf die wirksame Angriffsfläche bestimmt. Der Erddruck wird im Teil Boden und Baugrund beschrieben. Er kann je nach Boden und Wasserverhältnissen zwischen Null und ansehnlichen Werten variieren. Deshalb besteht die Hauptaufgabe der Dimensionierung darin, sich über die Art des Bodens zu informieren und darüber, ob und wie viel Wasser vorhanden ist oder sein könnte. Es gibt hierzu zwei Ansätze.

  1. Bei einem Neubau einer Mauer, z.B. bei einem Haus oder in einem Garten, wird das Gelände oft teilweise mit neuem Boden aufgebaut. Dieser ist also zunächst eine lockere Schüttung, die noch verdichtet werden muss oder die sich mit der Zeit von selber langsam setzt, wenn dies nicht gemacht wird. Die Eigenschaften dieses Bodens sind möglicherweise bekannt, wenn dieser eingekauft wurde. Sonst müssen entweder die Art des Bodens bestimmt oder seine Eigenschaften gemessen werden.

  2. Bei der Sanierung einer Stützmauer oder bei einem Neubau in bestehendem Gelände, wird vorher ein Teil eines gewachsenen oder vorverdichteten Bodens abgetragen. Dadurch wird das Bodenprofil sichtbar, und der steilstmögliche Böschungswinkel gibt Auskunft über die momentane Stabilität des Bodens. Diese wird oft maßgeblich durch seine Kohäsion bestimmt.
    Hier klaffen in vielen Fällen die gängige Praxis und normative Vorgaben zur Berechnung auseinander. Meistens lässt sich ein gewachsener Boden steil abstechen, was auf relative Trockenheit mit einer hohen Kohäsion und wenig seitlichen Erddruck schließen lässt. In einer solchen Situation werden oft relativ dünne Stützmauern gebaut. Ändern sich die Verhältnisse, z.B. durch eine Minderung der Kohäsion, können diese Mauern zusammenfallen. Viele historische Stützmauern sind jedoch auch nach Jahrhunderten noch vorhanden, obwohl sie nach heutiger Anschauung als unterdimensioniert gelten. Nach heutigen Normen neu erstellte Stützmauern sind meistens massiver, auch weil die Abschätzung der Kohäsion schwierig ist und diese deshalb rechnerisch wenig oder gar nicht berücksichtigt wird.
    Werden hingegen in einem alten Gelände bestehende alte und beständige Mauern in Teilbereichen erneuert, ist es, außer bei offensichtlichen Fehlern, angebracht, die bestehenden Dimensionen zu übernehmen.

Beeinflussende Faktoren des Erddrucks

Der Erddruck wird hauptsächlich von den Faktoren Bodenwichte, Wasser, Reibungswinkel sowie von der Neigung des Geländes bestimmt.

Bodenwichte

Unterhalb der humosen Schichten beträgt die Bodenwichte γ zwischen etwa 15 bis 22 kN/m³. Die Spannweite rührt weniger von verschiedenen Wichten der Körnungen her, die in der Schweiz im Mittel um 26,5 kN/m³ liegen (vgl. z.B. VSS 1966), sondern sie wird beeinflusst von Unterschieden im Hohlraumanteil zwischen den Körnern, also der Verdichtung. In den Erddruckdiagrammen gemäss CAPEB (2007), Schegk & Brandl (2009) und FLL (2012) werden Werte zwischen 20 und 18 kN/m³ verwendet, letzterer Wert auch für die Abbildung der Erddruckkraft im Teil Boden und Baugrund.

Wasser

Grobkörniger Boden ist weitgehend wasserdurchlässig. In seltenen Fällen, wenn sich das Wasser an der Mauer staut und nicht abfließen kann, wird zusätzlich der Wasserdruck wirksam. Bei feinkörnigen Böden müssen die genauen Wasserverhältnisse in Erfahrung gebracht werden. Denn solche Böden können ihre Eigenschaften auch bei schwacher Wasserzufuhr verändern, wenn diese über einen langen Zeitraum wirkt. Ist der Boden im gegenwärtigen Zustand einigermaßen trocken und stabil, muss abgeklärt werden, ob dies auch künftig so sein wird oder, ob irgendwann eine wesentliche Aufweichung zu erwarten ist. In Zweifelsfällen kann ein Teil des Bodens durch eine ausgedehnte Hintermauerung bzw. durch eine Hinterfüllung aus grobkörnigem Material ersetzt werden. Andernfalls muss die Mauer für den ungünstigsten Fall dimensioniert werden.

Reibungswinkel

Je grösser der Reibungswinkel φ, desto kleiner das Kippmoment und die schiebende Kraft auf den Mauerkörper. Eine genaue Dimensionierung ist nur mit einem bekannten Wert von φ möglich. Ist der Boden nichtbindig, kann φ genügend genau und zuverlässig mittels seines etwas gleich grossen Schütt- oder Böschungswinkels θ gemessen werden, meistens 30 bis 40 Grad, bei sehr kantigem Material auch bis etwa 45°. Bei bindigen Böden nehmen φ (von fast Null bis 30°) und θ (von praktisch waagrecht bis überhängend) je nach Wassergehalt sehr unterschiedliche Werte an. Insbesondere θ hängt stark von der bei solchen Böden vorhandenen stabilisierenden Kohäsion c ab (siehe unten). Die Werte müssen im Labor gemessen oder durch Bestimmung des Bodens geschätzt werden. Die frühere Norm DIN 1055-2 gibt z.B. Erfahrungswerte für φ anhand der Bodenart an. So wird bei gewachsenen oder verdichteten Böden angegeben:

Wird der Boden hingegen breiig oder beginnt sich zu verflüssigen, ergeben sich noch niedrigere Werte. Solche "Flüssig-Böden" kommen jedoch in der Natur nur bei speziellen, meist dynamischen Verhältnissen vor: bei Murgängen, Bergbächen mit Geschiebe, Treibsand oder Quickton. Bei rein hydrostatischem Druck, also wirklichen Flüssigkeiten, ist φ gleich Null.

Kohäsion

Die Bestimmung der Kohäsion c kann sich lohnen, wenn deren Beständigkeit garantiert werden kann, da in diesem Fall der anzunehmende Erddruck beträchtlich kleiner wird, mit entsprechender Ersparnis bei der benötigten Menge Steine. Der Wert streut jedoch selbst bei Labormessungen stark und ist sehr von der Erdfeuchte abhängig: Eine Änderung der Bodenfeuchtigkeit um 10% kann eine Verdoppelung oder Halbierung von c ausmachen (vgl. Schwing 1991).

Das Nachschlagen von c in Tabellen kann nur eine sehr grobe Angabe liefern, da der Wert sowohl nach der Art als auch nach der Konsistenz stark variiert. Im Zustand "weich" kann c Null sein, im Zustand "steif" gibt die erwähnte DIN 1055-2 für Tone bis 35 kN/m² an, in anderen Tabellen sieht man jedoch auch bis zum Zehnfachen davon. Als Fazit kann gelten: bei trockenen, mindestens halb-festen Böden ist c so hoch, dass sich eine für niedrige Stützmauern eine Erddruck-Berechnung erübrigt, bei weichen Böden dürfte c hingegen meistens Null sein, was die Rechnung des Erddrucks vereinfacht. In anderen Fällen lohnen sich genauere Abklärungen.

Hierbei stellen sich die folgenden Fragen:

  • Ist die Terrasse über der Stützmauer nur normalem Regen ausgesetzt oder kann viel Wasser vom Gelände weiter oben zufließen?

  • Kann das Wasser sich sammeln oder stauen?

  • Soll auch ein Jahrhundert-Regen schadlos überstanden werden?

  • Soll die Terrasse auch in aufgeweichtem Zustand von Menschen benutzt oder von Fahrzeugen befahren werden können?

Anhand der Bodenart und dem schlimmsten anzunehmenden Zustand ergibt sich für die Berechnung des Erddrucks neben dem φ-Wert in günstigen Fällen auch ein c-Wert.

Neigung des Geländes

Oft ist das Gelände oberhalb einer Stützmauer keine flache Terrasse, sondern ein Hang, dessen Neigungswinkel mit β (beta) angegeben wird. Dabei erhöhen sich die Erddruckkräfte mit zunehmender Hangneigung. Ein Gelände ohne Kohäsion, felsige Einschlüsse oder Bewuchs, kann keine höhere Neigung aufweisen als der Reibungswinkel des Bodens. Viele Hänge sind steil und trotzdem stabil, wegen der hohen Kohäsion und stabilisierender Wurzeln. Saugt sich das Gelände jedoch mit viel Wasser voll, kann der obere Teil über die Mauer abrutschen oder -fließen; keine noch so stabile Stützmauer kann dies verhindern – außer sie hat eine erhöhte Brüstung welche das Material auffängt.

Bild einer steilen Terrasse

Hier wird das Gelände oberhalb eines Wanderwegs in Oberhofen, BE gestützt. Der steile Oberboden ist durch die starke Grasnarbe normalerweise stabilisiert; nur nach tagelangem intensivem Regen könnte Erde über die Mauer wegrutschen.

Verformungen

Jede Trockenmauer wird sich nach ihrer Erstellung wenige Zentimeter setzen, ausser sie ist auf sehr festem Boden gebaut. Solange die Mauer die entsprechenden Gegenkräfte durch Eigengewicht, Reibung und Form aufbringen kann und der Boden darunter nicht weiter nachgibt, bleibt sie stabil.

Steht die Mauer auf plastischem bindigem Boden, wird unter dem Fundament sehr langsam das Porenwasser ausgetrieben, womit das Volumen schrumpft. Eine solche Setzung kann Jahre dauern und beträchtliche Ausmasse annehmen.

Wird der Erddruck mit der Zeit größer und/oder die Mauer schwächer, verschiebt sich die Mauer, sie verformt sich und kippt. Oder es geschieht alles miteinander. Dieser Vorgang kann Jahrzehnte dauern und auch wieder zum Stillstand kommen, wenn sich erneut ein Gleichgewicht der Kräfte einstellt. Deshalb muss eine sogenannte bauchende Mauer nicht immer und nicht sofort saniert werden. Wie englische Modellrechnungen zeigen, kann sie ihre Situation sogar stabilisieren und weitere Bewegungen ganz aufhalten (vgl. Mundell 2009). Gelingt dies nicht, wird die Mauer mit der Zeit versagen. Ist Wasser im Spiel, geschieht dies meist schnell.

Wahrscheinlicher ist eine Verformung über lange Zeiträume hinweg. Viele historische Stützmauern, auch vermörtelte, wurden bei guten Verhältnissen recht dünn gebaut und bauchen mit den Jahrhunderten ganz allmählich oder werden leicht überhängend (vgl. Schwing 1991). Dafür kommen neben der üblichen Setzung mehrere Ursachen in Frage, die unter dem Begriff Bodenkriechen bekannt sind.

Es können z.B. wiederholte Frost-/Auftau- oder Quell-/Schrumpfzykeln im bindigen Boden unmittelbar hinter der Mauer stattgefunden haben. Dies geschieht, wenn der frierende oder quellende Boden die Mauer um eine kleine Distanz zu bewegen vermag und sich beim Auftauen oder Schrumpfen des Bodens eine dünne Fuge bildet, weil die Mauer nicht "zurückfällt". Die Fuge füllt sich dann mit eingeschwemmten oder verwittertem Material und der Zyklus kann sich wiederholen. So kann selbst eine starke Mauer mit der Zeit langsam zum Bauchen, Kippen oder Gleiten gebracht werden. Dagegen kann ein grosser Anlauf helfen. Einerseits dauert es länger, bis sich die Mauer ganz aufrichtet oder überhängend wird, andererseits kann sie bei der Schrumpfungsphase wieder zurückfallen, so dass sich keine Fuge bildet.

Ein weiterer Effekt hat mit Stabilisierungszykeln zu tun. Bei alten, gesetzten Böden kann sich hinter der Mauer der Ruhedruck einstellen. Entgegen dem, was man erwarten würde, ist dieser höher als der am Anfang wirksame aktive Erddruck. Kippt nun die Mauer minim, und völlig unbemerkt, stellt sich wieder der niedrigere aktive Erddruck ein und die Bewegung hält inne. Es ist vorstellbar, dass sich die Vorgänge wiederholen, in wohl Jahrzehnte dauernden Zykeln.

Offensichtlichere Gründe für das allmähliche Versagen einer Trockenmauer sind die Verwitterung, das Herausfallen der Steine und die Zunahme der Belastung durch immer schwerere Fahrzeuge oder Aufstockungen von Gebäuden auf der Terrasse.

Zeichnung Bauchen von Dani Pelagatti, Verwendung gemäss http://data.umwelteinsatz.ch/T/medien/illustrationen/DaniPelagatti/images.html

Die Zeichnung links zeigt eine Verformung im mittleren Teil einer Trockenmauer: das Bauchen. Das Bild rechts zeigt eine Stüzmauer in Ligurien, Italien, die teilweise baucht. Eine Sanierung ist nicht in jedem Fall nötig.

Optimale Dimensionierung

Eine optimale Dimensionierung für Stützmauern bedeutet einen Querschnitt zu finden, bei dem die Mauer bei der größten anzunehmenden Belastung nicht versagt, aber auch nicht stark überdimensioniert ist. Im Falle einer Unterdimensionierung wird die Mauer nicht sehr alt, sie versagt vielleicht schon während des Baus oder kurz dannach. Im Falle eines überdimensionierten Querschnitts wird mehr Stein als nötig verbaut. Dies kostet in der Folge unnötig viel Geld und verschwendet Ressourcen. Nur bei sogenannten Verbrauchsmauern ist es das Ziel, möglichst viele Steine zu verbauen.

Sicherheitszuschläge - Sicherheitsfaktoren

Die Einschätzung der künftigen Belastungen einerseits sowie der technischen Eigenschaften und Kennwerte von Boden und Mauer andererseits, enthält auch bei gewissenhafter Anwendung eingeführter Berechnungsmethoden immer etwas Restunsicherheit. Deshalb werden Sicherheitsspielräume einkalkuliert. Das heißt, der theoretisch als notwendig errechnete Querschnitt wird etwas größer gewählt, ein Sicherheitsfaktor wird angesetzt. Dieser soll vor allem Unwägbarkeiten im Stein, Unzulänglichkeiten in der Bauweise, etwas zu günstig angenommene Bodenverhältnisse oder alterungsbedingte Veränderungen der Mauer auffangen. Ganz konkret bedeutet dies: Zu den errechneten Werten für den Grenzfall des Versagens wird ein Sicherheitszuschlag oder ein Sicherheitsfaktor (SF) hinzugerechnet. Ein Sicherheitszuschlag von 50 Prozent bedeutet, dass eine Belastung durch Erddruck, die rechnerisch gerade zum Versagen führt, mit dem Sicherheitsfaktor 1,5 multipliziert wird und der notwendige Querschnitt für diese Belastung neu berechnet wird. Beide Ausdrücke werden verwendet; man darf sie nicht verwechseln.

Der Begriff "Sicherheit" bezieht sich auf die Integrität des Bauwerks und seiner Umgebung und nicht nur auf die Sicherheit von Menschen. Somit sind die SF gleich, egal ob es sich um einen niedriges Mäuerchen oder um einen Eisenbahndamm handelt. Baugrund und Bauwerke werden jedoch in unterschiedliche geotechnische Kategorien unterteilt und die Handhabung der SF wird je nach Kategorie angepasst (vgl. z.B. Dörken & Dehne 2004). Die wirklich relevante Grösse ist die Versagenswahrscheinlichkeit, die auch bei einem noch so hohen SF nie ganz Null ist. Wo ein Versagen Lebensgefahr oder hohe Kosten bedeutet, wird eine Versagenwahrscheinlichkeit unter einem Millionstel angestrebt (vgl. Schwing (1991)). Im anderen Extrem können bei vielen Trockenmauern leichte Verformungen toleriert werden, auch wenn diese mit Gewissheit auftreten.

Aus den obigen Ausführungen wird ersichtlich, dass die Handhabung von Sicherheitsfragen bei der Dimensionierung zentral ist. Gleichzeitig ist es ein schwierig zu verstehendes Gebiet der statistischen Wahrscheinlichkeitsmathematik. Schliesslich gibt es keine "richtige" Antworten oder absolute Sicherheit, sondern geht immer darum, wieviel Aufwand akzeptierbar ist, um eine tolerierbare Schadenswahrscheinlich zu erhalten. Im Anhang Sicherheit wird dieses umfangreiche Thema ausführlicher behandelt. Hier folgen Beispiele für verwendete Sicherheitsfaktoren:

Vorgehen bei der Dimensionierung

Die verschiedenen Abmessungen einer Mauer beeinflussen einander. Meistens wird zuerst die Höhe festgelegt, oder sie ist vorgegeben. Dann werden die Querschnittsform, z.B. als Rechteck, Trapez oder Vieleck - sowie die Winkel der Flächen gewählt, vor allem der Anzug der Hauptfläche. Zuletzt wird die erforderliche Dicke der Mauer bzw. werden die Breiten des Fundaments und der Krone bestimmt. Alles zusammen ergibt den Querschnitt oder das Profil. Eine weitere Grösse ist die Länge der Trockenmauer, die in der Regel situationsbedingt ist. Statische Berechnungen werden für Abschnitte mit Einheitslänge, z.B. für 1 Meter Mauer, durchgeführt.

In der Regel trifft man zunächst Annahmen aufgrund von Erfahrungen und Faustregeln und führt anschliessend mit den angenommenen Werten den statischen Nachweis. Bei Sanierungsprojekten kann man sich in den meisten Fällen an den bestehenden Dimensionen orientieren, außer die Schäden deuten explizit darauf hin, dass die Mauer beispielsweise zu wenig dick war.

Die Mauerhöhe festlegen

Die Höhe einer Trockenmauer ist meistens vorgegeben. Bei freistehenden Mauern sind dafür die Funktion und das Erscheinungsbild maßgebend. Die Höhe von Stützmauern hängt ab von der Breite und Steilheit der Geländestreifen oberhalb und unterhalb der Mauer. Gibt es mehrere Terrassen, können viele niedrige oder wenige höhere Stützmauern gebaut werden.

Da die Kosten einer Mauer etwa im Quadrat zu ihrer Höhe wachsen, sind mehrere kleine Mauern meistens günstiger als eine große. Wird ein Geländestreifen landwirtschaftlich oder als Verkehrsweg genutzt, bestimmt dessen minimal geforderte Breite letztlich die Mauerhöhe.

Zeichnung 1 oder 3 Stützmauern

Terrassierung eines Geländes mit einem Neigungswinkel von 2:3 (67%, 34°). Je nach Reibungswinkel des Bodens und den auszuhaltenden Auflasten, benötigt die Variante mit einer Stützmauer (links) bis zu dreimal so viel Stein wie die Variante mit drei Stützmauern für dieselben Gesamthöhe (rechts). Wenn kein Boden abgeführt wird, dient der Abtrag vorne zum Auftrag hinten (die schraffierten Flächen sind gleich groß). Bei der Terrassierung eines existierenden Hangs sind die Abstände der Mauern zueinander gegeben. Bei einer neuen Aufschüttung müssen die minimalen Abstände anhand der Bodeneigenschaften abgeklärt werden.

Während niedrige Mauern auch als Erstprojekte oder im Eigenbau machbar sind, sollte ab etwa 1,5 Metern Höhe mindestens eine professionelle, im Trockenmauerbau erfahrene, Bauleitung eingesetzt werden.

Die Mauerhöhe setzt sich zusammen aus der Sichthöhe und dem unsichtbaren Teil im Fundamentbereich, der Einbindtiefe. Eine Stützmauer hat im allgemeinen unterschiedliche Höhen vorne und innen im Hang. Für die statische Berechnung ist die vertikale Distanz zwischen dem hinteren Fusspunkt und der Mauerkrone massgebend: die Stützhöhe.

Zeichnung Mauerhöhen

Die Abmessungen des Vierecks eines Stützmauerprofils können unterschiedlich bezeichnet werden, die Illustration zeigt die gebräuchlichsten.

Die erforderliche Sichthöhe von Weidemauern hängt von der Tierart ab, die auf der Weide gehalten wird. Allerdings werden viele Weidemauern heute zusätzlich mit Drähten oder Zäunen gesichert; dann ist eher die optische Erscheinung maßgebend.

Die Höhe von Trockenmauern beeinflusst den Arbeitsaufwand stark. Deshalb sind auch die meisten Trockenmauern weniger als 2 Meter hoch. Je höher die Mauer, desto stärker die Belastung der Steine, vor allem der unteren Schichten, und des Bodens. Für Mauern bis 10 Meter Höhe sind bei fachgerechter Bauweise wenig bearbeitete Steine genügend stark; bei größerer Höhe müssen die Steine, mindestens der unteren Lagen, besonders gleichmäßig aufliegen, damit sie nicht brechen (Villemus 2005). Der Bau von so hohen Mauern verlangt eine sorgfältige Planung und einwandfreie Ausführung.

Zeichnung Cei Mawr

Eine der höchsten freistehenden Trockenmauern ist mit fast 19 Meter an der höchsten Stelle, der Eisenbahnübergang von Cei Mawr der Ffestiniog Railway in Nord Wales, eine seit 1836 - ursprünglich vor allem mit Schwerkraft - betriebene Schmalspurbahn. Das Bauwerk ist oben 4 m breit und hat an im Jahre 1880 angebauten Strebepfeilern einen beidseitigen Anzug von 1:6. Dazwischen gibt es Stellen mit weniger Anzug. Über hundert Jahre fuhren Güterzüge der Schieferbergwerke darüber, dann gab es eine fast 50-jährige Pause und heute gibt es eine fahrplanmässige Beförderung für Passagiere mit Dampf und Diesel.

Die Einbindtiefe der Mauerhöhe unter der Erde kann gering, oder auf festem Boden, auch gleich null sein. Eine Faustregel empfiehlt, die Mauer bei durchschnittlichen Bodenverhältnissen 15 Zentimeter tief in den Boden hinein zu setzen, bei viel Humus noch etwas tiefer. Nur in Ausnahmefällen ist die Gründung in frostfreier Tiefe erforderlich. Bei Stützmauern in steilem Gelände muss das Ausmaß der Einbindtiefe den Bodeneigenschaften angepasst werden, denn hohe und hochbelastete Stützmauern üben auf den vorderen Mauerfuß einen großen Druck aus. Dieser kann bei weichen Böden zum Grundbruch führen. Wird die Fundamentsohle tiefer gelegt, kommt die Mauer auf festeren Boden zu stehen, da der umgebende Erddruck mit der Tiefe zunimmt. Selbst eigentlich nachgiebiges Material kann dann weniger ausweichen.

Die vier Winkel festlegen

Die meisten Stützmauern haben vier Flächen, nämlich Krone, Gründungssohle, sichtbare Hauptfläche und unsichtbare Rückwand im Hang. Die Neigungswinkel dieser Flächen haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Stabilität und müssen deshalb für eine optimale Dimensionierung sorgfältig bestimmt werden.

Zeichnung Winkel

Diese Zeichnung definiert die in diesem Text verwendeten Bezeichnungen und Richtungen von drei der Stützmauerflächen; der Winkel der Krone hat keine Bezeichnung. Gezeigt werden auch der Neigungswinkel der Terrasse β und der Winkel δ, welche im Kapitel Boden und Baugrund beschrieben wurde.

Den Anzug der Sichtfläche festlegen

Die Haupt- oder Sichtfläche der meisten Stützmauern ist gut definiert, gerade und neigt sich etwas zum Hang. Bei dieser Neigung von der Vertikalen weg spricht man von Anzug oder Anlauf, der in Verhältnissen oder Prozent angegeben wird. Ein Anzug von 1 zu 10 oder 10 Prozent heißt also, dass die Mauerkrone einer 1 Meter hohen Mauer gegenüber ihrer Fußlinie 10 Zentimeter nach innen versetzt ist. Das entspricht einem Winkel von 5,7 Grad, von der Vertikalen aus gemessen.

Der Anzug bestimmt das Erscheinungsbild und die Stabilität der Mauer. Die meisten Mauern werden mit Anzug zwischen 10 und 20 Prozent gebaut, hoch belastete Stützmauern auch mit etwas mehr. Ein Anzug von mehr als 25 Prozent ist bei üblichen Stützmauern selten, ausser in Japan, wo es traditionelle konkave Stützmauern gibt, mit Anzug bis 100 Prozent im unteren Bereich.

Zeichnung freistehende Profile

Verschiedene Profile von freistehenden Trockenmauern mit derselben Querschnittsfläche. Die Stabilität nimmt mit dem Anzug zu. Aber zu spitz darf die Mauerkrone nicht werden, da die Decksteine sonst zu leicht von Tieren oder Menschen heruntergestoßen werden können. Außer bei sehr großen Bausteinen: die Pyramiden gehören zu den dauerhaftesten Bauwerken der Menschheit!

Zeichnung Stützprofile

Verschiedene Profile von Stützmauern mit derselben Querschnittsfläche. Die optimale Form hängt sowohl von den Vorgaben, z.B. der optischen Erscheinung, als auch von den Bodeneigenschaften ab. Von links nach rechts:

  1. Rechteckige, senkrechte Mauer, z.B. in einem Garten und mit sehr gleichmäßigen Quadersteinen.
  2. Der Anzug hinten erhöht die Stabilität vor allem bei Schlamm und Wasserdruck und vergrößert die nutzbare Bodenfläche, z.B. bei einer landwirtschaftlichen Terrasse.
  3. Mit Anzug vorne ist die Mauer noch stabiler, auf Kosten der Terrassenbreite.
  4. Die geneigte Gründungssohle erhöht die Gleitstabilität; die geneigte Krone erleichtert das Abfließen von Wasser.
  5. Die Neigung der inneren Fläche zum Hang kann bei einigen Böden die Stabiltät nochmals erhöhen.
  6. Das geneigte Rechteck: wie 1. zu bauen, aber stabiler.
  7. Dieses Profil entsteht durch eine umfangreiche Hintermauerung bis zur Böschung.
  8. Dieses Profil beginnt unten wie 7. und verjüngt sich oben beidseitig: hohe Stabiltät und grosse nutzbare Terrassenfläche.

Durch den Anzug wird der Schwerpunkt des Mauerkörpers zum Hang hin verschoben; der Widerstand gegenüber der kippenden Wirkung des Erddrucks wird vergrößert. Deshalb gilt im Allgemeinen: Je größer der Anzug, desto kippsicherer die Mauer. Aber dies darf nur zusammen mit den Neigungen der anderen Flächen betrachtet werden. Vor allem bestimmt der Anzug meistens den für die Gleitstabilität sehr wichtigen Neigungswinkel der Gründungssohle sowie der Mauerschichtung im Querverband, da diese beiden Winkel oft rechtwinklig zueinander stehen. Auch der Anzug der inneren Mauerfläche wird indirekt beeinflusst.

Bild Kumamto Castle basierend auf http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kumamoto_Castle_02n3200.jpg von 663highland

Japanische Stützmauern haben oft unten einen grossen Anzug und oben einen kleinen, wie bei dieser Mauer bei der Burg Kumamoto.

Bild überhängende Mauer in Wales von Sean Adcock

Diese seltene Kragmauer des Schieferbergwerks Gorseddau bei Cwmystradllyn in Wales zeigt, dass große stabile Überhänge mit langen starken Bindern möglich sind. Hier ist der Überhang 1,5 m bei einer Mauerhöhe von 4 m. Die 100 m lange Mauer mit dem gezeigten imposanten Mauerkopf wurde 1860 gebaut, vermutlich zum Schutz eines früheren Geleises vor Steinschlag. (vgl. Adcock in DSWA 2010)

Stützmauern ohne Anzug, also mit vertikalen Sichtflächen, werden dann gebaut, wenn die Terrassen-Nutzfläche möglichst groß sein soll. Reddi (1982) geht diesbezüglich von massiven Ersparnissen beim Bau von Stützmauern für Bergstrassen aus. Je steiler das Gelände, desto grösser die Ersparnis. Auch bei Tufnell (vgl. SUS 2002) finden sich Beispiele und Empfehlungen für mögliche vertikale Sichtflächen, wenn die Qualität des Mauerwerks einwandfrei ist.

Sogar überhängende Mauern sind möglich, sie benötigen aber besonders viel Stein und genügend lange Binder. Das lohnt sich nur bei Kunstobjekten oder für ganz spezielle Zwecke wie bei der Schutzmauer von Cwmystradllyn in Wales.

Auch freistehende Mauern werden mit einem leichten Anzug ausgeführt, da sie dadurch an Standsicherheit gewinnen. Exakt vertikale Sichtflächen sind nur bei Gebäude- oder Einfriedungsmauern üblich, da diese über die Ecken oder Rundungen in sich ausgesteift sind. Zuweilen werden vertikale Hauptflächen gebaut, wenn exakt rechtwinklige Steine verwendet werden. Mit solchen Bausteinen ist es besonders leicht eine hohe Standfestigkeit auch ohne Anzug zu erreichen.

Zeichnung Anzug Terrassenmauern

Stützmauern im stabilen, steilen Gelände, hier bei 45°. Vom Anzug hängt ab, wieviel Stein für eine bestimmte Nutzung benötigt wird. Für landwirtschaftlich genutzte Terrassen ermöglichen senkrechte Stützmauern (jeweils linkes Bild) etwa einen Drittel mehr Nutzfläche als wenn die Mauern einen Anzug von 25 Prozent aufweisen (jeweils rechtes Bild; sie benötigen dafür aber etwas mehr Stein, hier ein Drittel. Geht es hingegen um eine einzige Terrasse mit einer definierten Breite, z.B. für einen Bergweg, ist es umgekehrt. In diesem Beispiel benötigt die Stützmauer mit 25 Prozent Anzug etwa einen Drittel mehr Stein als eine senkrechte Stützmauer.

Den Anzug der Rückwand festlegen

Im Teil Boden und Baugrund wird der Zusammenhang zwischen Erddruck und Neigung der Rückwand beschrieben. Eine Neigung zum Hang hin ist gut bei stabilen Böden, eine Neigung weg vom Hang ist geeignet zum Zurückhalten von instabilen Böden und Wasser. Eine mehr oder weniger vertikale Rückwand, also eine mit wenig oder keinem Anzug, ist immer möglich und bei mittelstabilen Böden optimal.

Außer vom Boden hängt die Wahl des Anzugs der Rückwand auch von den übrigen Dimensionen der Stützmauer und von den Bedingungen auf der Baustelle ab. Bei einer niedrigen Stützmauer in einem gewachsenen bindigen Boden kann vor dem Beginn des Baus eine beliebig steile Böschung abgestochen werden und die Mauer bis zu dieser reichen. Bei einem Gelände, welches neu aufgeschüttet worden ist, wird die Böschung jedoch bis zu 45 Grad betragen, und der Mauerkörper kann nicht bis dorthin reichen. In diesem Fall, und auch wenn das Gelände erst nach dem Bau der Mauer angelegt wird, kann eine zunächst freistehende Stützmauer gebaut werden. In den meisten Fällen wird jedoch der Zwischenraum zwischen Rückwand und Böschung während des Baus schichtweise aufgefüllt. Hier kann der Rückwandanzug beliebig gewählt werden, jedoch entsteht dabei nicht immer eine scharfe Grenze, sondern zuweilen ein allmählicher übergang zwischen Mauerkörper und Boden. Definitionsgemäß ist die Hintermauerung ein Teil des Mauerkörpers, während die Hinterfüllung aus geschüttetem Material als Boden gilt.

Stabiler als eine Hinterfüllung, aber weniger stabil als eine Hintermauerung, ist eine Steinpackung. In einer Steinpackung sind die Steine zwar sorgfältig gestapelt, aber sie bilden keinen Verband, weil sie sich kaum überbinden. Ob diese den Mauerkörper eher belasten oder stabilisieren, hängt von der Geometrie der Böschung ab, etwa davon, ob es möglich ist, diese stufenförmig anzulegen (vgl. Arya 1983). Auf jeden Fall ist die für die statische Berechnung wirksame Grenze des Mauerkörpers in solchen Fällen schwierig zu definieren.

Gerade wenn keine klare Abgrenzung zwischen Boden und Mauer erkennbar ist, kann ein diffuser Übergang nützlich sein. Ein solcher Übergang von den feinkörnigen Anteilen des Bodens bis hin zu den großen Steinen des Mauerkörpers dient als filterstabile Entwässerung. Das heißt: Die Zwischenräume verstopfen nicht mit eingeschlämmten feinen Bodenteilchen, obwohl das Wasser zügig abfließen kann.

Der Aufbau eines solchen Übergangs benötigt eine Neigung weg vom Hang (gut zu erkennen in der Illustration zum Thema Hintermauerung mit Entwässerung, S. 284). Dies ist jedoch nur möglich, wenn genügend Material und Platz vorhanden sind. Manche Trockenmaurer bauen ein Geotextil aus Kunststoff zwischen Hintermauerung und Boden ein. Es soll anstelle des natürlichen Filters aus unterschiedlichen Gesteinskörnungen die Mauer vor Verschlammung schützen. Obwohl eine solche künstliche Grenze die Definition und Berechnung der Mauer vereinfacht, ist sie aus statischer Sicht ungünstig, da die erwünschte Reibung zwischen Boden und Mauerkörper herabgesetzt wird. Die Verwendung eines solchen textilen Filters ist nur zielführend, wenn seine Durchlässigkeit eigens für die vorhandenen Bodenverhältnisse berechnet wurde. Andernfalls kann das Vlies sehr schnell zusetzen und wie eine Dichtung wirken. Auch ökologisch wirkt das Geotextil nachteilig.

Zeichnung

Bei dieser Stützmauer mit umfangreicher, filterstabiler Hintermauerung ist die Rückwand nicht klar abgegrenzt, sondern es findet ein allmählicher Übergang von grösseren zu kleineren Steinen der Hintermauerung und zum Boden statt. Man erahnt im oberen Teil trotzdem eine diffuse, weg vom Hang geneigte Grenze.

Aus den oben genannten Gründen wird manchmal ein fünfeckiges Profil angelegt, sei es aus Tradition wie in den Weinbergen um Stuttgart (vgl. Heck, Bücheler et al. 2011) oder sei es «automatisch», d. h., wenn die Rückwand, also die Hintermauerung, im unteren Teil der Mauer bis zur Böschung reicht und im oberen Teil senkrecht wird oder gar die Richtung wechselt und von der Böschung weggeht. Diese Art der Stützmauer vereint eine große Stabilität bei mäßigem Steinvolumen und genügend Erdvolumen in der Terrasse. Auch die Stützmauer in obiger Abbildung geht in diese Richtung, ist etwas massiver gezeichnet als in der Praxis üblich. Der Aufwand für die statische Berechnung solcher Profile ist höher als bei üblichen viereckigen Profilen und wurde in technischen Empfehlungen bisher noch nicht beschrieben.

Weitere Informationen finden sich im Anhang Rückwand. Dort wird beschrieben, wie mit einer geeigneten Wahl der Rückwandneigung eine "unendliche" Kippstabilität erreichbar ist, selbst wenn die Wand extrem stark belastet wird, und wie geeignete Neigungswinkel für Dämme berechnet werden, welche Wasser oder Schlamm stauen sollen.

Die Neigung der Gründungssohle und der Mauerschichtung festlegen

Mit der Wahl des Neigungswinkels der Fundamentsteine wird maßgeblich die Stabilität einer Stützmauer gegen Gleiten bestimmt; sekundär wird aber auch das Kippmoment beeinflusst. Gründungssohle und Fundament können waagrecht oder nach innen geneigt sein, in der Regel aber nicht nach außen. Ihre Neigung wird meistens in der Mauerschichtung im Querverband fortgesetzt.

Bei Stützmauern ist es am einfachsten, die Neigung des Fundaments im rechten Winkel zum Anzug der Sichtfläche festzulegen.

Dadurch entsteht bei der Verwendung von Quadersteinen kein Versatz in dieser Fläche, also als "Mäuseläufe" benannte Stufen.

Ein Neigungswinkel nach innen erhöht die Gleitstabilität der Mauer, die Gefahr einer Verschiebung wird reduziert. Die schiebende Kraftkomponente wird kleiner, der Erddruck müsste das Mauergewicht bergauf verschieben. Beispielsweise kann sich bei 15 Grad Neigung der Widerstand gegenüber horizontaler Schichtung verdoppeln. Abhängig vom Reibungskoeffizienten würde die Gleitstabilität ab einem gewissen Winkel sogar "unendlich"; die Mauer könnte – ohne Grundbruch – mit noch so hohem Druck nicht verschoben werden. Allerdings wäre ein so großer Neigungswinkel selten praxistauglich.

Durch die Neigung der Lager in den sichtbaren Schalen wird auch dem Herausfallen der sichtbaren Mauersteinen entgegengewirkt. Deshalb ist eine Neigung auch bei freistehenden Mauern hilfreich. Da dies zu zwei unterschiedlichen Neigungswinkeln führt und die Durchbinder waagrecht verlaufen, ist ein solcher Aufbau anspruchsvoll. Deshalb kann die Schichtung der Einfachheit halber waagrecht sein, wenn darauf geachtet wird, dass die Lager einzelner Steine nicht nach außen geneigt sind.

Jedoch keine Regel ohne Ausnahme: bei bestimmten Mauern werden alle Steine nach außen geneigt verbaut, um das Wasser dorthin abzuleiten. Bei Dächern ist dies selbstverständlich. Bei einigen Rundbauten wird eine Kombination einer solchen inneren Schale und einer umgekehrten äußeren Schale gebaut; so kann Regenwasser automatisch in eine Zisterne geleitet werden (vgl. Roustan in SUS 2002).

Die Neigung der Mauerkrone festlegen

Der Neigungswinkel und die Form der Krone sowie die Art des Anschlusses an das Gelände bestimmen die Stützhöhe der Mauer und beeinflussen somit den Erddruck auf die innere Fläche. Der Winkel bestimmt auch, welche Richtung das Wasser nimmt, welches der Krone zufliesst, welche optische Erscheinung die Mauer besitzt und ob Personen auf der Krone sitzen oder gehen können. Bei vielen Stützmauern reichen der Boden oder seine Grasnarbe bis zur Vorderkante der Mauerkrone, diese ist dann nicht sichtbar.

Die Mauerdicke bzw. die Fundamentbreite festlegen

Wenn die bis hierher beschriebenen Dimensionen festgelegt sind, kann die Breite bzw. Dicke der Mauer bestimmt werden. Diese beeinflusst die Standfestigkeit einer freistehenden Mauer und die Stabilität einer Stützmauer gegen Kippen und Gleiten.

Die Festlegung der Breite geschieht in erster Linie mit Hilfe von Faustregeln. Sie muten zunächst etwas einfach an, beinhalten jedoch die Erfahrungen von Jahrhunderten des Mauerbaus.

Die meisten Trockenmauern beschreiben im Querschnitt annähernd ein aufrechtes Trapez oder Viereck, so dass man die Breiten am Fundament und an der Krone benötigt. Üblicherweise gibt man in erster Linie die Fundamentbreite an, d.h. die Breite der Gründungssohle.

Zeichnung Faustregeln

Beispiele für die Anwendung von Faustregeln bei Mauern mit einer Höhe von einem Meter.

Faustregel 1: Eine sehr weit verbreitete Faustregel für freistehende Mauern sagt: Die Mauerdicke im Fundamentbereich – bzw. die Breite des Fundaments – beträgt die Hälfte der Mauerhöhe. Mit dem üblichen beidseitigen Anzug verjüngt sich die Mauer gegen die Mauerkrone hin. Jedoch sollte diese nicht zu schmal werden, damit die Decksteine noch ausreichend groß und schwer sind.

Faustregel 2: Die Kronenbreite sollte mindestens 30 Zentimeter aufweisen.

Gemäß diesen Regeln erhält eine freistehende Mauer von 1 Meter Höhe ein Fundament von 50 Zentimeter Breite und eine Krone von 30 Zentimeter Breite. Das ergibt einen beidseitigen Anzug von 10 Prozent.

Mit dieser Halb-so-breit-wie-hoch-Faustregel lassen sich in vielen Fällen auch richtig dimensionierte Stützmauern bauen. Eine 1 Meter hohe Stützmauer bekommt dann einen Anzug von maximal 20 Prozent, wenn die hangseitige Fläche vertikal ist und die Kronenbreite 30 cm beträgt.

Bei günstigen Standortverhältnissen, das heißt in trockenem, stabilen Gelände mit wenig geneigten Terrassen, wären solche Mauern jedoch überdimensioniert. In nassem, instabilen Gelände, bei größeren Verkehrslasten, Vibrationen oder geneigten Terrassenflächen wären sie hingegen unterdimensioniert. In diesen Fällen wird die Regel angepasst. Bei günstigen Standortverhältnissen reicht ein Verhältnis der Höhe zur Breite von 3:1 aus, bei ungünstigen setzt man ein Verhältnis von 1,5:1 an (vgl. Brooks & Adcock 1999).

In Gebieten, wo es viel und heftig regnet, empfiehlt einen Sockel aus sichtbaren Fundamentsteinen mit einem zusätzlichem Vorsprung von 5 Zentimetern je Meter Mauerhöhe (Arya 1983). Damit soll verhindert werden, dass Regenwasser das Fundament unterspült und den Untergrund aufweicht. Gleichzeitig wird bei einer belasteten Stützmauer der besonders starke Druck der Vorderkante besser verteilt.

Diese Faustregeln genügen für den Bau der meisten Mauern und führen bei stabilen Böden oder trockenen Verhältnissen und bei mäßigen Auflasten zu ähnlichen Resultaten wie die komplizierteren, ingenieurmäßigen Verfahren, die in Teil II beschrieben werden. Ist aber der Boden bindig und sind die Wasserverhältnisse variabel, müssen solche Verfahren angewendet werden, um eine Unter- oder Überdimensionierung zu vermeiden. In Teil 2 geht es um diese Verfahren. Hier folgt zunächst ein Rückblick auf die historische Entwicklung der Dimensionierung.

Zeichnungen von Richard Tufnell

Hohe Stützmauern gemäss Richard Tufnell. Links bis 4 m hoch mit zusätzlicher Hintermauerung oder verdichteten Hinterfüllung, ohne große Auflasten, Anzug 1:4 (25%). Rechts beliebige Höhe für Bergstraße in stabilem, nicht extrem steilen Gelände, erdbebensicher, Anzug 1:3 (33,3%). Bei beiden bildet die verbreiterte Fundationsschicht einen Sockel, welcher der Erosion der Fundamentsohle durch herabstürzendes Oberflächenwasser vorbeugt.

Historische Entwicklung der Dimensionierung

Versuche

Vier 6 Meter hohe Versuchsmauern (Burgoyne 1854) aus dem Jahre 1834 übertrafen in ihrer Größe sämtliche neueren Forschungsmauern der Universitäten von Lyon und Bath. Sie dienen deshalb auch heute noch als eine Art Eichstandard, um moderne Berechnungen zu validieren (Villemus 2005, Colas 2009 und Mundell 2009).

Zeichnung Burgoyne's Versuchsmauer (Public Domain)

Schnitt der 6 Meter hohen, 1 Meter dicken, senkrechten Versuchsmauer von Sir John Burgoyne, während sie bei Überbelastung kippt, inkl. der nachgebenden Erde.

Versuchsmauern werden absichtlich schwach dimensioniert, um sie beim Versagen zu beobachten. Die vier Mauern hatten alle eine mittlere Dicke von 1 Meter aber verschiedene Profile und Schichtungsneigungen. Sie waren von außerordentlicher Qualität: Vollmauerwerk aus Granit mit Mauerwichte 22.3 kN/m³ – entsprechend nur 14 Prozent Hohlraumanteil –, mit Schichtung im rechten Winkel zum vorderen Haupt, gebaut auf einer waagrechten Grundlage aus Fels. Sie wurden durch schichtweise eingebrachte feuchte Komposterde (Wichte 14 kN/m³) belastet, mit etwa waagrechter oberer Fläche.

Zwei der Mauern hatten 20 Prozent Anzug und Schichtungsneigung. Sie ließen sich bis zur vollen Höhe von 6 Meter belasten ohne nachzugeben. Die beiden anderen Versuchsmauern mit senkrechten Sichtflächen und horizontaler Schichtung erwiesen sich erwartungsgemäss als weniger stabil. Das Bild (Burgoyne) zeigt eine Momentaufnahme eines Zeichners während des Umkippens der senkrechten, rechteckigen Mauer, nachdem die Erdhöhe 5,2 Meter erreicht hatte. Zu sehen ist auch, daß sich die Mauer statisch einigermaßen monolithisch verhält, mit Ausnahme der Steine innen am Mauerfuß. Der Winkel der schrägen Bruchfläche ist vom Reibungswinkel des Bodens und von der Ausführung des Querverbands abhängig. Der Mauerkörper bildet oberhalb der Bruchlinie im ersten Moment des Kippens einen halben Kragbogen. Burgoyne gibt bei seinen Versuchen einen Bruchwinkel von 45 Grad an.


Bemessungsregeln und Normen

Schon im 18. Jahrhundert wurden in Frankreich Tabellen mit Stützmauerbemessungen herausgegeben, z.B. von General und Festungsbaumeister de Vauban. Diese wurden vom Miltär-Ingenieur und Akademiker de Bélidor und anderen weiterentwickelt (Bélidor 1754) und bezogen sich auf ein Verhältnis von Mauerwichte zu Bodenwichte von 1,5:1 und einem φ des Bodens von 45°. Die Forscher jener Zeit bemühten sich, die Kohäsion rechnerisch exakt abzubilden, aber es gelang ihnen noch nicht. Deshalb wählten sie für kohäsiven Boden wohl eher hohe φ-Werte. De Bélidor's Stützmauerprofile gaben Fundamentbreiten von etwa einem Drittel der Höhe an, bei einem Anzug von 17-20 Prozent. Auch Coulomb errechnete ähnliche Profile, publizierte jedoch Tabellen statt Gleichungen (vgl. Heyman 1997). Sie erweisen sich noch heute als unter bestimmten Bedingungen exakt und werden immer noch verwendet.

Auch schweizerische Normen aus dem Straßen- und Geleisebau des 19. Jahrhunderts lieferten bei höheren Mauern vergleichsweise schlanke Querschnitte. Jedoch bezogen sie sich meistens auf ein komplettes System, zu dem auch eine umfangreiche Steinpackung gehört, welche den Erddruck teilweise oder ganz aufnehmen kann.

In einem solchen System hat der eigentliche Mauerkörper gleichbleibende, perfekt entwässerte Verhältnisse und ist dann eigentlich eine Futtermauer. Dies ist nicht direkt vergleichbar mit den Belastungen einer Stützmauer mit Erdkontakt. In der Mauerwerksnorm Gotthardbahn (1873) finden sich detaillierte Angaben zu Anlagen aus Stützmauern, Futtermauern und Steinsätzen. Letztere können laut Norm Stützmauern ersetzen oder ergänzen. Es sind nach der Norm "in ihrem ganzen Querschnitt sorgfältig geschichtete Steine, die zur Luft mit einer Rollschicht von 45 Grad abschliessen". In der Norm sind auch Trockenmauern bis 9 Meter vertikaler Höhe bei einem Anzug von 2/3 der Höhe erlaubt; diese können nach unten mit einem Anzug von 4/5 der Höhe verlängert werden. Es ist in der Abbildung ersichtlich, daß solche Trockenmauern nicht einfach Stützmauern sind, sondern komplette, neu angelegte Anlagen aus Stein. Sie stützen weniger den Boden, sondern sich selber und tragen die tonnenschweren Eisenbahnen.

historische Zeichnung Gotthardbahn (Pubic Domain)

Die Zeichnung aus den Gotthardbahn-Normen zeigt eine Futtermauer, eine Steinpackung, und hangseitig den Bahndamm. Das Bild zeigt eine ähnliche Situation bei der tatsächlichen Gotthardbahn, wo eine Rollierung in eine steilere Futter- oder Stützmauer übergeht.



Ich danke Co-Autorin Ingrid Schegk für einige der Formulierungen aus dem gedruckten Buch, und Ralf Fuhrmann für das Korrekturlesen der Online-Texte.

Bilder nachgewiesen im HTML-Quelltext, sonst von Theo Schmidt, diese verwendbar gemäss http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Stand : 30.6.2014/29.8.2023