Bei den meisten Stützmauern ist die unsichtbare, zum Hang gewandte Fläche ganz oder fast vertikal. Es gibt jedoch gute Gründe davon abzuweichen, wenn der Boden besonders stabil oder besonders instabil ist oder auch, wenn es gilt, Wasser zu stauen oder die Terrassenfläche zu maximieren. Dieser Anhang beschreibt nach einer historischen Einleitung diese Spezialfälle und die Bedingungen für "unendlich" stabile Stützmauern.
Der Anzug der Rückwand wird üblicherweise als Winkel α in Grad von der Vertikalen aus gemessen. Sein Vorzeichen bzw. seine Richtung wird unterschiedlich definiert. Im Folgenden ist eine Neigung weg vom Hang als negativer und zum Hang als positiver Winkel definiert, siehe Zeichnung.
Es stellt sich die Frage, welche nun die optimale Richtung ist. Die Antwort hängt von den Eigenschaften des Bodens ab. Diese, zusammen mit α, beeinflussen sowohl die Richtung der Erddruckkraft, als auch deren Betrag. Die Abbildung der Erddruckkraft im Teil Boden-Baugrund zeigt beides. Bei stabilen Böden (φ etwa 40° und mehr) variiert die Erddruckkraft je nach α stark und wird bei negativem α klein. Bei instabilen Böden variiert der Druck weniger und bei Wasser gar nicht. Hier ist die Dammform besonders stabil. Dies weiß intuitiv jedes Kind, das jemals einen Bach gestaut hat: selbst mit runden Kieseln lässt sich die Wasserkraft bändigen, wenn die dem Druck zugewandte Fläche genügend flach verläuft, was einem hohen negativen α entspricht. Es lohnt sich, die kindliche Intuition am Beispiel des Wassers rechnerisch zu bestätigen und zu untersuchen, ob sie auch für Böden gilt. Denn je grösser der negative Anzugswinkel α, desto größer ist die Standfestigkeit, bei unveränderten Winkeln der anderen Flächen. Wenn die Richtung der Erddruckkraft zur Gründungssohle und nicht zur Sichtfläche zeigt, kann die Mauer nicht kippen, wie anhand der folgenden Abbildungen gezeigt und erklärt wird. Ein hoher negativer Winkel α vergrößert indirekt auch die Stabilität gegenüber Gleiten und Grundbruch.
Die historische Abbildung ist eine Bearbeitung aus Bélidor (1729) und zeigt das Gewicht G am Schwerpunkt E und die Kraft H an der Rückwand.
Schon 1762 berechnete der Franzose Charles Bossut das maximale Verhältnis von Höhe zu Breite h/b eines dreieckigen Dammprofils mit senkrechter Sichtfläche, für eine abgedichtete Mauer oder Steinpackung - also ohne Auftrieb (vgl. Heyman 1997). Für den Grenzfall bezüglich Kippen ergibt sich:
wobei γM / γF das Verhältnis der Wichten von Mauerwerk und Flüssigkeit ist. Im folgenden werden die wichtigsten Grenzfälle gemäss dieser Formel mit der Anordnung mit senkrechter Rückwand verglichen. Nicht gezeigt werden die Verbreiterungen an Krone und Fundament, die in der Praxis für die Tauglichkeit und die Sicherheit notwendig sind.
Richtung des hydrostatischen Drucks bei Mauerwichte = doppelte Flüssigkeitswichte, links mit Anzug der Rückwand -50% = -26.6°, rechts mit vertikaler Rückwand.
Ist γM= γF , wird h/b = √3 (unten links). Bei der Anordnung mit senkrechter Rückwand wird h/b = √2 (unten rechts). Hier ist zudem die Gleitstabilität ungenügend; es wäre ein unrealistisch hoher Reibungskoeffizient von über 1,42 notwendig, oder ein Formschluss. Dieser Fall tritt in der Praxis auf, wenn mit leichten Steinen und hohem Hohlraumanteil oder mit Erde gebaut wurde, und das Wasser mit Schlamm ersetzt wurde, z.B. weil das Gewässer stark verlandet ist. Auch wenn das Verhältnis der Wichten nicht ganz eins ist, dürfte eine Neigung der Rückwand für jede leichte Staumauer zu empfehlen sein. Bei geschütteten Staudämmen und Deichen ergibt sich das ohnehin.
Richtung der hydrostatischen Druckkraft bei Mauerwichte = Flüssigkeitswichte, links mit Anzug der Rückwand -50% = -26.6°, rechts mit vertikaler Rückwand.
Richtung der hydrostatischen Druckkraft bei Mauerwichte = Null und beliebiger Flüssigkeitswichte. Siehe auch die historische Zeichnung am Anfang, welche dieselben Proportionen aufweist, auch wenn nicht genau dieser Fall gemeint ist.
Ausser bei Steinpackungen ist der hohe negative Anzug der Rückwand selten. Bei üblichen Stützmauern wären die Erdarbeiten erheblich: viel wäre abzutragen und nachher wieder aufzutragen. Außerdem wäre das Fundament breit und aufwändig, die Krone jedoch unter Umständen schmal und verletzlich.
Ein fünfeckiges Profil oder "Bauch nach Innen" entsteht, wenn die Hintermauerung und somit die Rückwand unten der Böschung folgt und im oberen Teil die Richtung wechselt und von der Böschung weg geht. Diese Art Stützmauer ist in den Weinbergen um Stuttgart sogar Tradition. Sie vereint eine große Stabilität bei mäßigem Steinvolumen und genügend Erdvolumen für die Kulturen (vgl. hier und hier (Nr. 8)).
Bei stabilerem Boden (hoher Reibungswinkel φ) lohnen sich Mauern mit zum Hang geneigter Rückwand (positves α), wie die Abbildung der Erddruckkraft rechts zeigt. Eine solche Mauer ist nicht unbedingt autostabil, d.h. sie könnte ohne den Boden hangwärts kippen. Das kann ein Vorteil sein: Die Mauer ist kaum von Kriechbewegungen des Bodens betroffen, sie "atmet" zusammen mit dem Boden!
Sind die Anzüge der Sichtfläche und der Innenfläche parallel und sehr groß, z.B. 1:1, handelt es sich nicht mehr um eine Stützmauer, sondern um eine Verkleidung des Bodens. In der Schweiz wird eine solche Verkleidung Rollierung genannt, da ab diesem Winkel Bindersteine definitionsgemäss zu Rollern werden.
Bei mit Wasser oder Schlamm belasteten Trockenmauern lohnt sich der negative Anzug der Rückwand. Bei Böden mit hohem Reibungswinkel lohnt sich hingegen ein positiver Anzug der Rückwand. Als pragmatischer Kompromiss dazwischen, ist die Rückwand bei vielen Stützmauern ungefähr vertikal. Auch die im Abschnitt "Statischer Nachweis nach Norm" erwähnten Diagramme gehen größtenteils von einer vertikalen Rückwand aus. Sie ist einfach zu bauen und kann in den allermeisten Fällen nicht falsch sein.